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52° 32' 2'' N, 13° 12' 59'' E
Die Gurte am Kran schwingen leicht im Wind, der Himmel ist hellgrau, das Wasser im Kanal dunkel, fast schwarz, und der blendend weiße Schiffsrumpf schwebt wie eine dicke Wolke durch die Luft. Acht Monate stand die Volver an Land, nun soll sie in ihr eigentliches Element zurückkehren.
Trommelwirbel, Atem anhalten, beten, dass keine Bö kommt.
Ein Stapellauf ist es im Grunde nicht. Weder läuft das Schiff über Bohlen ins Wasser, noch ist es der erste Kontakt mit dem nassen Element nach Fertigstellung, doch da der leuchtende Rumpf samt Kiel mühevoll neu beschichtet worden ist, und es nur noch wenig an Bord gibt, was mein Kapitän nicht ausgetauscht hat, schwebt die Volver sozusagen einem ganz neuen Leben entgegen.
Aufregend ist es sowieso immer, obwohl Kranen für unser Schiff fast schon Alltag ist, so oft hing die Volver in den letzten Jahren in den Gurten. Zum Glück wusste ich vor zwei Jahren nicht, dass Boote bei falscher Lastverteilung tatsächlich abrutschen können— wer sich gruseln will, kann gerne nach entsprechenden Videos in einschlägigen Portalen suchen —, sonst hätte ich mich nicht auf Geheiß eines französischen Kranführers an eines der vier Gurtenden gestellt, als wir aus der Mitte des Rhein-Rhone-Kanal abgeborgen wurden. Acht mehr oder weniger starke Arme sollten die sechseinhalb Tonnen, auf denen wir standen, am Rutschen hindern. Wichtiger war wahrscheinlich der Tauchgang meines Kapitäns, begleitet von einem „Ils sont fous, ces Allemands!” des Lastwagenfahrers, den nichts und niemand an diesem nasskalten Tag in den Kanal getrieben hätte. Nun, es ist nichts gerutscht, aber die Aussicht war fantastisch, und das Schiff landete sicher auf dem Schwerlaster.
Der Kran in Berlin Spandau schwenkt langsam in die richtige Position. Die Volver sinkt sanft ins Wasser, schwimmt, der Motor springt an, die Schraube dreht sich. Es kann losgehen. Aber noch nicht mit der Reise, sondern zuerst mit dem Bunkern, denn während der Kapitän laminiert, geschliffen und gestrichen hat, hat die Seefrau gekauft, was für das leibliche und geistige Wohl vonnöten ist. Kühlschrank, Bilge und Bücherregal werden gut gefüllt, und ab Sonntagmorgen sind wir dann mal weg.
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52° 32' 2'' N, 13° 12' 59'' E
Nein, ich werde keine Wehklage über das Wetter anstimmen, denn Frau und Mann segeln ja, um sich Wind, Wellen und Wasser auszusetzen, egal in welcher Stärke und aus welcher Richtung, um jene Augenblicke zu erleben, in denen sich ein Gefühl der Einheit von Tun und Sein einstellt, ein müheloses Gleiten im Augenblick — schlicht das meist so flüchtige Glück.
Seemanns Freud‘ ist das Meer.
Für jene selbstvergessene Momente hat ein amerikanischer Professor den Begriff „Flow” geprägt, ursprünglich, um die Faszination von Risikosportarten zu erklären, doch die Merkmale passen auch zum Fahrtensegeln: Das Reizfeld ist begrenzt, erfordert aber volle Aufmerksamkeit, jede Handlung erfährt direkte Rückmeldung, und Sinn und Zweck ist einzig das Segeln selbst. Theoretisch ist also Segeln der Königsweg zum Glück.
Doch leider hat der liebe Herrgott, haben Neptun, Poseidon oder wer auch immer vor den „Flow” beim Segeln das Basteln, die schnöde Arbeit am Boot gestellt. So dient die in unseren Breitengraden zwangsläufige Winterpause, die sich auch schon mal bis weit in den Frühling hineinziehen kann, nicht allein der Regeneration und Vorfreude. Zwischen winterfest einplanen und frühjahrstüchtig herrichten warten kleinere Schönheitsreparaturen, die sich leicht zum Refit oder zur Komplettsanierung auswachsen können, denn an Überraschungen fehlt es an Land ebenso wenig wie zu Wasser.
Dabei gilt in der Regel: kleine Boote — kleine Probleme, große Boote — große Probleme. Männer nehmen diesen Umstand meist als sportliche Herausforderung, ähnlich den Stürmen auf See trotzen sie Leckagen, Osmose und Motorschäden mit konfuzianischem Gleichmut und aufgerollten Ärmeln. Der Weg ist das Ziel, eins kann man auch mit Expoxidharzen und Schleifpapier werden, die Seefrau dann mit Eimer und Wischlappen.
Mir ist dieser Gleichmut nicht gegeben. Ich suche den „Flow” lieber auf dem Meer. Zum Glück ist mein Kapitän da ganz anders. Seit Monaten werkelt er mal enthusiastisch, mal verzweifelt am Schiff, mit dem wir bald — ja, in einer Woche soll es so weit sein — drei Monate auf der Ostsee unterwegs sein werden. Jeden Abend gibt es Erfolgsnachrichten oder Hiobsbotschaften, fließend verschiebt sich der Abfahrtstermin, der Weg ... ja ja, ich weiß, aber manchmal ist der Weg doch nur ein Weg.
Meine Sehnsucht ist die Ferne.
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52° 30' 20'' N, 13° 23' 38'' E
Die Straße ist aufgerissen, von der Hochbahn hängen Plastikplanen. Aufgehübschte Altbauten blicken auf hässliche neue Wohnwaben und schiefergrau zickzackt sich der Neubau des Jüdischen Museums ins Sichtfeld. Wir befinden uns in Kreuzberg, wo sich nicht nur Baustile aneinander reiben.
Vor einem langgezogenen Betonkasten — mit einer breiten roten Bauchbinde zwischen erstem und zweitem Stock — stehen Grüppchen festlich gekleideter Jugendlicher.
We don’t need no education ...
Nein, hier werden keine Mauern eingerissen, hier wird gefeiert, wie es die Glitzerwelt in Film und Fernsehen vormacht.
Seit ein paar Jahren grassieren im Bekanntenkreis kurz vor den Sommerferien die Abibälle. Die aufwändig in Festsälen inszenierten Feiern haben in unserer an Ritualen armen Gesellschaft rasch Fuß gefasst. Kirchliche Feiern haben als Initiationsritus schon lange ausgedient, an staatlichen hatte sich Deutschland die Finger verbrannt. Blieb also noch der höhere Schulabschluss — bis Ende der 60er Jahre eine recht formelle Angelegenheit in der Aula.
Zu meiner Zeit waren Feiern verpönt, jedenfalls die, auf denen irgendwelche Autoritäten auftraten, und mein filmisches Bild einer Abschlussfeier stammte aus „Carrie” und hatte ein äußerst blutiges Ende. Das Zeugnis holte ich mir im Sekretariat ab — wahrscheinlich gab es noch einen Händedruck vom Rektor, das könnte ich aber nicht beschwören. Die Tür schloss sich zum letzten Mal hinter mir, und ich wollte nur raus und weg in eine Zukunft ohne Zwänge.
Heute werden weltweit wieder Traditionen gepflegt, werden die Feste von Jahr zu Jahr aufwändiger, gibt es schon Event-Agenturen, die für viel Geld die Organisation übernehmen. Was 2011 in für mehrere Schulen in Berlin und Brandenburg beinahe in einem Desaster endete, weil die Organisatoren im Internet einem Betrüger aufgesessen waren, der nur das Geld einkassiert hatte. Größer, schöner, weiter heißt es wie überall, das Drehen an der Leistungsspirale findet seinen Höhepunkt im perfekt organisierten Abiball in der perfekten Location mit perfektem Outfit.
Dann gibt es noch den kleineren Bruder des Abiballs, den Ball zum Mittleren Schulabschluss, der an Gesamtschulen und Sekundarschulen gefeiert wird und zu dem die Jugendlichen vor dem Haus in Kreuzberg wollen. Abschluss wie auch Feier sind etwas weniger schick, haben aber auch alles, was dazu gehört — festliche Kleider in jeder Länge und Farbe. schwindelerregende Highheels, dunkle Anzüge und enge Schlipse, Fotoshootings, Bar und Buffet. Hier trifft sich noch einmal die bunte Vielfalt der Gesellschaft, bevor die einen zum Abitur streben und die anderen in der Arbeitswelt ihr Glück versuchen. Es ist nicht perfekt, passt vielleicht hinten und vorne nicht so richtig, doch es ist die Feier, die das Miteinander beendet.
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51° 29' 14'' N, 9° 43' 2'' W
Green, green, green. In allen Grünschattierungen wogen Gras und Büsche, eidottergeld flammt Ginster auf. Irland trägt die Landesfarben und noch dazu blauen Himmel ohne eine einzige Regenwolke. Schön, senden Augen ununterbrochen ans Hirn, wunderschön, gibt das Hirn an tiefere Körperteile weiter, und der Mund seufzt leise.
May the road rise up to meet you. May the wind always be at your back. May the sun shine warm upon your face, and rains fall soft upon your fields. And until we meet again, may God hold you in the palm of His hand.
Natürlich muss ein Reisesegen aus diesem Land kommen, nicht nur der Schönheit wegen, sondern auch weil die Wege weit und krumm sind, weil das Wetter mehrmals am Tag wechselt, weil hinter jeder Hecke Erstaunliches warten kann, zum Beispiel ein Schild, auf dem die Entfernung nach New York angegeben ist (ca. 5000 km) und das aufs Meer hinausweist. Viele sind von hier aufgebrochen. 1840 lebten über acht Millionen Menschen in Irland, doch Missernten und die Hoffnung, dem kargen Leben zu entrinnen, trieben Jahr für Jahr an die fünfzigtausend Iren nach England, Amerika oder gar Australien. Als 1845 die Kartoffelfäule die Insel erreichte und mehrmals die gesamte Ernte vernichtete, flohen fast zwei Millionen vor dem Hungertod, dem etwa eine Million Männer, Frauen und Kinder zum Opfer fielen.
Bei meinem ersten Besuch 1999 schien das bitterarme Irland endlich einmal ein Stück vom großen Wirtschaftskuchen abzubekommen, was sich in den folgenden Jahren gut an Veränderungen der Versorgungslage ablesen ließ. Bald gab es neben den Pubs Cafés, neben Lebensmittelläden Health Food Stores und auch die Discounter fanden den Weg über den Atlantik. Der Keltische Tiger reckte sich, und zum ersten Mal strömten Einwanderer ins Land. Die Arbeitslosenquote sank in den einstelligen Bereich, die Grundstückspreise stiegen in schwindelnde Höhen ... und stürzten ebenso schnell wieder ab in der Krise.
Und wieder steht Irland in Europa an der Spitze der Auswanderernationen. 2013 hat die Regierung The Gathering ausgerufen — Kommt nach Irland, versammelt euch hier, sagt allen Bescheid.
Invite them home.